Zur „antikapitalistischen Demo“ am 9.2. in Essen

Unter dem Motto „Zusammen kämpfen gegen Kapital, Unterdrückung und Ausbeutung“ fand in Essen eine Demonstration des „Aktionsbündnis 9.2.“ statt. Bereits im Vorfeld hatten antifaschistische Gruppen aus der Region massive Kritik an dem Aufruftext geäußert. Während der Demonstration wurden unsere Befürchtungen durch einen Teil der Demonstrant/inn/en bestätigt, die sich als Reaktion auf das Zeigen einer Israelfahne zum Skandieren der Parole „Intifada bis zum Sieg“ veranlasst fühlten.

Im Folgenden dokumentieren wir ein auf der Demo verbreitetes Flugblatt, das den offiziellen Aufruftext kritisch analysiert.

Was macht Ihr hier eigentlich?

Demonstrieren. „Gegen Kapital, Unterdrückung und Ausbeutung“ wie es auf der Mobilisierungswebsite zur heutigen Demo heißt. Wir wissen natürlich nicht, ob Ihr den Demo-Aufruf überhaupt gelesen habt, ob Ihr trotz oder wegen des Aufrufs hier seid. Dennoch wenden wir uns mit diesem Flugblatt an Euch. Man könnte und wird uns deshalb vielleicht „Spalterei“ vorwerfen, aber spalten kann man bekanntlich nur, was irgendwie doch zusammengehört und da der Aufruf zu dieser Demo mit linker Gesellschaftskritik so viel zu tun hat wie die Familienpolitik der CDU, fehlt uns für die politischen Intentionen des „Bündnis 09.02.“, so die Eigenbezeichnung der aufrufenden Gruppen, tatsächlich jegliches Verständnis.

Den „Kapitalismus abschaffen“ wollen die Verfasser/innen des Aufrufs nach eigenem Bekunden. Ein unterstützenswerter Plan, sollte man meinen, unterwirft der Kapitalismus doch seit gut 150 Jahren, mal unter liberalistischen, mal unter sozialstaatlichen Vorzeichen, die Menschheit einem historisch beispiellosen Verwertungszwang und stürzt sie von einer Katastrophe in die nächste.
Bis zu diesem Punkt scheint also Einigkeit zu herrschen. Doch bei genauerem Hinsehen wird schnell klar: das, was die Verfasser/innen des besagten Aufrufs unter Kapitalismus verstehen und am Kapitalismus auszusetzen haben, hat mit linker oder gar kommunistischer Gesellschaftsanalyse wenig zu tun.

Vom ewigen Manager…

Gleich im ersten Absatz werden in gewohnt sozialpopulistischer Manier die nur zu gut bekannten Phrasen von den steigenden Managergehältern und den Rekordgewinnen der Unternehmen bemüht. Dass die meisten erfolgreichen Unternehmen Aktiengesellschaften sind und deshalb gezwungen, Jahr für Jahr Rekordgewinne zu erwirtschaften, weil Ihnen ansonsten die Aktionäre das Kapital entziehen, bleibt ebenso unbeachtet, wie die Tatsache, dass auch Managergehälter marktreguliert sind, Unternehmen also bereit sind, ihren Manager/innen die entsprechenden Gehälter für ihre Arbeit zu zahlen.

Viel schockierender als steigende Manager/innen/gehälter finden wir die Kritik, die auch und gerade seitens der „Linken“ an diesem Phänomen geübt wird. Zum einen wird hier ein Zusammenhang zwischen Manager- und Arbeiter/innen/gehältern konstruiert, der schlicht nicht existiert, sodass von einer reinen Neiddebatte ohne jegliches gesellschaftskritische Potenzial ausgegangen werden muss. Zum andern liegt dieser Kritik ein Gerechtigkeitsempfinden zugrunde, das selbst dem ideologischen Repertoire des bürgerlichen Kapitalismus entspringt und somit zutiefst systembejahend ist. So soll, gemäß der bürgerlich-liberalen Vorstellung vom Leistungsprinzip, jede/r abhängig Beschäftigte einen Lohn erhalten, der dem von ihm erwirtschafteten Wert entspricht. Dabei wird außer Acht gelassen, dass der Produktionsprozess im Kapitalismus unter der Bedingung der Trennung von Produzent/in und Produktionsmittel stattfindet. Das bedeutet, dass der erwirtschaftete Wert zwar ausschließlich durch die Arbeit des/der Produzenten/Produzentin(1) zustande kommt, die zur Produktion notwendigen Produktionsmittel aber im Besitz des/der Kapitalisten/Kapitalistin sind. Der an die abhängig Beschäftigten ausgezahlte Lohn muss daher notwendigerweise so bemessen sein, dass der/die Besitzer/in der eingesetzten Produktionsmittel genug Profit(2) macht, um sich ernähren und (um konkurrenzfähig zu bleiben) langfristig in leistungsfähigere Produktionsmittel investieren zu können. Der erwirtschaftete Wert kann also unter der Bedingung der Trennung von Produzent und Produktionsmittel (und das ist immer die Bedingung, unter der Lohnarbeit stattfindet) nie dem ausgezahlten Lohn entsprechen. Die Forderung nach gerechten Löhnen geht daher von der falschen Grundannahme aus, dass der erwirtschaftete Profit eigentlich dem/der Arbeiter/in zustehe.

Der kapitalistische Produktionsprozess, der auf der Aneignung fremder (Mehr-) Arbeit durch den/die Kapitalisten/Kapitalistin basiert, und der hieraus resultierende objektive Interessenswiderspruch zwischen Kapitalist/in und Arbeiter/in können erst durch die Überwindung der Trennung von Produzent/in und Produktionsmittel aufgehoben werden, also durch die Aufhebung des Privateigentums im Zuge der sozialen Revolution. Lohnforderungen, welcher Art auch immer, können weder „objektive“ Gerechtigkeit schaffen noch über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus weisen, da Lohnarbeit immer auf der Aneignung fremder (Mehr-)Arbeit und damit auf der Ausbeutung von Menschen durch Menschen basiert. In einer Gesellschaft, in der die Trennung von Produzent/in und Produktionsmittel überwunden ist, ist auch der Tausch Arbeit gegen Lohn hinfällig, die Lohnarbeit somit abgeschafft.

Es bleibt festzuhalten, dass die Diskussion darüber , ob ein Manager, der über ein Jahreseinkommen von 10 Millionen Euro verfügt, überbezahlt sei – da der Wert seiner Arbeitskraft in keinem Verhältnis zu seiner Bezahlung stehe – alles andere als kapitalismuskritisch ist, da ein Lohn nie in dem Sinne „gerecht“ sein kann dass er dem vom Lohnempfänger erwirtschaftete Profit entspricht. Es ist wenig verwunderlich, dass sich der moralistischen Kritik an unverhältnismäßig hohen Managergehältern von der Linkspartei über SPD und CDU bis hin zur NPD, all diejenigen anschließen können, die sich einer scheinbar gerechteren Verwaltung des gesellschaftlichen Elends verpflichtet fühlen.

…zur heiligen Familie

Während man Sozialpopulismus und politökonomisches Unverständnis von der Mehrheitslinken hierzulande längst gewohnt ist, setzt der Aufruf in anderen Bereichen ganz neue Maßstäbe. Mit der wie selbstverständlich vorgetragenen Unterstellung, der/die Leser/in wolle „eine Familie […] gründen“ (was zumeist natürlich voraussetzt, dass er/sie heterosexuell und auf eine monogame Zweierbeziehung aus ist) und dem anschließenden Hinweis auf die angeblich zunehmende „Gewalt in den Städten“ und den „Drogenkonsum“ versuchen die Verfasser/innen mit quasi deckungsgleichen Inhalten klassische Themenfelder der politischen Rechten zu besetzen. Sie gießen damit nicht nur Öl ins Feuer der von rechts initiierten Debatte um Jugendkriminalität, sondern machen sich zugleich auch zu Fürsprechern repressiver gesellschaftlicher Normen wie Familie, Heterosexualität und Drogenverzicht. Der Generation der Linken um 1968 wird nicht gänzlich zu unrecht die Tendenz zugeschrieben solche Normen hinterfragt zu haben sowie halbwegs emanzipatorische Maßstäbe bezüglich einer selbstbestimmten Sexualität und eines eigenverantwortlichen Umgangs mit Drogen gesetzt zu haben]. Das hier zum Vorschein tretende Gesellschaftsbild der aufrufenden Gruppen stellt daher aus unserer Sicht einen eklatanten Rückfall hinter längst gewonnene Erkenntnisse und einen inakzeptablen Verrat an linken Mindeststandards dar und weist zudem erschreckend offensichtliche Parallelen zur Ideologie einer rechtskonservativen Eva Herman auf.
Im weiteren Verlauf des Aufruftextes würdigt man auch die demonstrativ in Anführungsstriche gesetzten „‚Antiterrorkriege‘ im Irak, Israel, Türkei, Libanon und Afghanistan“ mit einem Halbsatz. Eine Differenzierung zwischen der Lage im Irak, wo in den letzten Jahren tausende Zivilist/inn/en dem islamistischen Terror zum Opfer fielen, und der Situation in Israel, das durch seinen Anspruch, allen vom Antisemitismus Verfolgten eine sichere Zufluchtsstätte zu bieten, den Hass von Antisemit/inn/en auf der ganzen Welt auf sich zieht, scheinen die Schreiber/innen nicht für nötig zu halten. Nicht der islamistische Terror, sondern die Antiterrorkriege forderten, so der Aufruftext, „jeden Tag viele Opfer, während sich hier zulande der Sicherheitsstaat breit macht und die verbliebene Demokratie ablöst“. Dass dieser hier euphemistisch als Sicherheitsstaat bezeichnete systematische Abbau von Freiheitsrechten demokratisch legitimiert ist (immerhin schafft es der nach allen Regeln des Parlamentarismus frei gewählte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble laut ZDF Politbarometer problemlos unter die Top 10 der populärsten Politiker), ist dem Bündnis 09.02. keine Erwähnung wert. Schließlich sorgen sich seine Initiatoren ja selbst um die Zunahme der Jugendkriminalität und geben sich nicht nur hier als populistische Vorreiter des gesunden Volksempfindens.

Die im Aufruftext zu Tage tretende Ideologie ist durchzogen von inneren Widersprüchen. Man will den Kapitalismus abschaffen, nicht aber Warentausch und Lohnarbeit, man versteht sich als links, vertritt aber in drogen- und familienpolitischen Fragen rechtskonservative Positionen, man will einem naiven Demokratieideal zu seinem Recht verhelfen, aber zum einen nichts davon Wissen das auch Demokratie Herrschaft bedeutet – eine ernstzunehmende Kritik an Staat- und Kapital also auch gerade eine Kritik der Demokratie sein müsste – und übersieht zum anderen dass der „Überwachungsstaat“ und die restriktive Migrationspolitik sogar demokratisch legitimiert sind.

Vor diesem Hintergrund scheint es naheliegend, den Text als Zeugnis politischer Verwirrtheit schlicht zu ignorieren. Problematisch ist diese Haltung aber dann, wenn es den Verfasser/inne/n solcher Pamphlete gelingt, den Begriff „links“ im öffentlichen Diskurs für sich zu vereinnahmen. Die zwischenzeitliche Unterstützung des Aufrufs durch den linksparteinahen Jugendverband [Solid!] verdeutlicht, dass diese Befürchtung durchaus einen handfesten Realitätsbezug hat. Wo selbsternannte Linke so offensichtlich hinter sämtliche Mindeststandards emanzipatorischer Theorie und Praxis zurückfallen, ist eine kritische Intervention von außen deshalb dringend geboten.

Antifaschistische Gruppen aus NRW im Februar 2008