Gedenkkundgebung am 9.11.2009: Redebeiträge

Alle Redebeiträge der Antifa Essen Z zur Gedenkkundgebung anlässlich des 71. Jahrestags der Reichspogromnacht am 9.11.2009 in Essen-Borbeck. Den Aufruf zur Kundgebung findet Ihr hier.

Die Pogromnacht in Essen-Borbeck
Rechte und rassistische Strukturen und Aktivitäten im Stadtteil
Kritik der bundesdeutschen Gedenkkultur

.Die Pogromnacht in Essen-Borbeck

Dieser Platz in Borbeck wurde nicht zufällig für eine Gedenkkundgebung anlässlich des
9. Novembers gewählt. Denn nicht nur die Essener Synagogen in der Innenstadt und in Steele wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Brand gesteckt. Wie im übrigen Stadtgebiet und in ganz Deutschland, so wurden auch hier in Borbeck die Geschäfte und Wohnungen der jüdischen Bevölkerung angegriffen und zerstört.

Diese Angriffe bildeten zunächst den Höhepunkt des staatlich gelenkten Antisemitismus in Deutschland, der seit Januar 1933 den Alltag der Menschen bestimmte. Die in der Öffentlichkeit als spontane Racheakte deklarierten Aktionen, die angeblich dem Zorn des deutschen Volkes entsprungen waren, waren entgegen der Berichte, der zu diesem Zeitpunkt bereits gleichgeschalteten Medien, von den braunen Schlägertrupps der SA organisiert.

Auch hier an diesem Ort wüteten in dieser Nacht Mitglieder von SA und SS und stellten ihre menschenverachtende Ideologie offen zur Schau. Ihre Ziele in Borbeck waren ausnahmslos die Geschäfte und Wohnungen von jüdischen Bürgerinnen und Bürger. Ihr Besitz wurde zerstört und Menschen misshandelt und verschleppt.

Ein drastisches Bild muss sich am Morgen des 10. November den Borbeckern geboten haben.

Hier am Borbecker Platz 2 befand sich das Bekleidungsgeschäft Goldblume, dass Sally Loewenthal als Geschäftsführer leitete. Er selbst wohnte mit seiner Frau Ernestine und seinem Sohn Manfred in dem gleichen Haus. Manfred, der nur zufällig zu Besuch in Essen war, musste in dieser Nacht miterleben, wie das Geschäft seiner Eltern von SA-Truppen angegriffen wurde. Die Schaufensterscheiben wurden eingeschlagen, ebenso die gesamte Inneneinrichtung. Kleidungsstücke und Stoffe mit Farbe beschmiert und unbenutzbar gemacht. Einen Teil des Inventars verteilten die Schläger auf dem ganzen Platz, sie hängten Schaufensterpuppen an Laternen und sorgten somit für ein erschreckendes Bild. Die beiden männlichen Familienmitglieder wurden in dieser Nacht ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Nach einer kurzen Zeit in Freiheit wurden sie 1941 in die Todeslager nach Auschwitz bzw. Lodz deportiert. Sally Loewenthal starb am 25.6.1942 in Lodz. Sein Sohn am 14.9.1942 in Auschwitz.

Ebenfalls wurde in dieser Nacht der Borbecker Adolf Loewenstein nach Dachau gebracht. Er besaß ebenfalls ein Bekleidungsgeschäft in der Marktstraße und lebte mit seiner Familie in der Rechtstraße. Man hielt ihn bis zum Januar 1939 in Dachau gefangen. Im Jahr 1942 schließlich wurden alle Familienmitglieder der Loewensteins in das KZ Izbica deportiert.

Auch die Metzgerei der Familie Wolf in der Wüstenhöferstraße wurde Ziel der Angreifer. Die Ladeneinrichtung und die Fensterscheiben wurden auch hier zerstört. Als Reaktion auf diese Angriff stellte Herman Wolf ein Foto ins Schaufenster, welches ihn als Soldaten im Ersten Weltkrieg zeigte, in dem er für Deutschland gekämpft und das „Eiserne Kreuz“ erhalten hatte.
Sein Handeln sorgte, zu mindest bei seinen Nachbarn, für Verwunderung. Darüber hinaus gelang es der Familie Wolf Deutschland noch 1939 zu verlassen. Sie konnten nach Australien fliehen.

Arthur Salzmann wurde ebenfalls im Zuge der November Pogrome kurzzeitig inhaftiert. Er führte ein Möbelgeschäft in der Gerichtstraße, dass aber bereits im Februar 1938 „arisiert“ wurde. Nach seiner Freilassung lebte er nicht mehr lange in Borbeck. Zunächst zog er in die Stadtmitte. Von dort wurde er im Oktober 1941 nach Lodz verschleppt.

Diese wenigen Schicksale stehen stellvertretend für die von Millionen von Opfern. Ihre Erwähnung soll, vor allem an einem Datum wie heute, helfen, die große Masse greifbarer zu machen und den Opfern einen Namen und eine Geschichte zu geben. Sie machen deutlich, dass sich die grausamen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes nicht irgendwo, sondern hier im Zentrum der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens abgespielt haben.

Quellen:
Ernst Schmidt, Lichter der Finsternis. Widerstand und Verfolgung in Essen 1933 – 1945, Essen 1988
Hermann Schröter, Geschichte und Schicksal der Essener Juden, Essen 1980
Homepage des Kulturhistorischen Vereins Essen

.Rechte und rassistische Strukturen und Aktivitäten im Stadtteil

Am 9. November 1938 zerstörten und plünderten die Nationalsozialisten und ihre Sympathisanten hier, am alten Borbecker Marktplatz, zahlreiche jüdische Geschäfte und Wohnungen, griffen deren Inhaber und Bewohner an und bildeten damit gemeinsam mit ihren Gesinnungsgenossen im gesamten Deutschen Reich den Auftakt für einen historisch beispiellosen Verfolgungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevölkerung Europas.

Heute, 71 Jahre später, ist der Stadtteil Borbeck eine lokale Hochburg derer, die sich unverhohlen in die Tradition der damaligen Täter stellen. Die neonazistische Szene ist hier so präsent wie in kaum einem anderen Stadtteil. Über Jahre haben sich im Essener Nordwesten rechte Szenetreffpunkte etabliert, wie etwa der Borbecker Schlosspark oder die Kneipe „Donnerwetter“ im Stadtteil Dellwig. Das Gebiet rund um den Borbecker S-Bahnhof wird von neonazistischen Aufklebern und rechten Schmierereien geradezu überflutet.

Ein Kristallisationspunkt rechter Pöbeleien und Gewalttaten waren über Jahrzehnte hinweg die Heimspiele des lokalen Fußballvereins „Rot Weiß Essen“. Rechte Hooligans und ganz gewöhnliche Borbecker Bürger verwandelten die Hafenstraße an Spieltagen in eine „no-go-area“ für Migranten und Linke.

Doch auch im Alltag zeigte sich in der Vergangenheit immer wieder die Gefährlichkeit dieser Allianz zwischen spießbürgerlichen Rassisten und bekennenden Neonazis. Das herausragendste Beispiel sind hierfür die monatelangen rassistischen Angriffe auf eine kongolesische Familie im Sommer 2002. Als die verbalen Drohungen in körperliche Attacken übergingen, beteiligten sich daran nicht nur junge Rechtsradikale. Viele Bewohner der Borbecker Zinkstraße unterstützten die Angreifer oder demonstrierten zumindest ihre Sympathie mit den Tätern. Aufgrund der massiven Drohungen und Angriffe gegen die Familie und ihre Kinder, nahezu wöchentlich eingeschlagenen Fensterscheiben und ständiger Polizeieinsätzen, bei denen sich die Täter aus dem Umfeld aber gegenseitig deckten, blieb der Familie schließlich keine andere Möglichkeit, als aus Borbeck wegzuziehen.

Nachdem es in den folgenden Jahren etwas ruhiger um die rechte Szene im Stadtteil geworden war, fällt Borbeck seit 2007 wieder verstärkt durch Aktivitäten der NPD und ihrer Jugendorganisation JN auf. Der Essener Kreisverband der neofaschistischen Partei rekrutiert mittlerweile einen Großteil seiner Mitglieder und Führungskader aus der Borbecker Neonaziszene.

Darüber hinaus tauchten in den letzten Wochen immer wieder Aufkleber mit dem Schriftzug „Nationaler Widerstand Borbeck“ auf. Ob diese Gruppierung als neue Neonazi-Kameradschaft tatsächlich existiert, ist bislang unklar.

Unstrittig ist jedoch die Gefährlichkeit und Gewaltbereitschaft der rechten Szene in Essen-Borbeck. Der jüngste bekannt gewordene Vorfall ereignete sich im Frühjahr diesen Jahres, als in der Nähe des Borbecker Bahnhofs 15 Neonazis eine Gruppe von Schülern angriff und fünf von ihnen verletzte. Jedoch muss davon ausgegangen werden, dass bei Weitem nicht jede Pöbelei und jeder rechte Angriff zur Anzeige gebracht und öffentlich gemacht wird und wurde. Erst vor zwei Tagen fand hier in unmittelbarer Nähe des Borbecker Platzes wieder ein NPD-Wahlkampfstand statt, von dem aus die Neonazis Passanten anpöbelten, die sie für Ausländer oder Linke hielten.

Die Qualität und Quantität der rechten Aktivitäten und Übergriffe in Borbeck belegen eindrucksvoll, dass Faschisten heute zumindest in einzelnen Stadtteilen wieder eine tatsächliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen darstellen. Dieser Gefahr sollte gerade von Seiten der potenziellen Opfer mit Aufklärung und mit praktischer Gegenwehr begegnet werden.

.Kritik der bundesdeutschen Gedenkkultur

Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist – sofern sie es jemals war – heute nicht mehr das Monopol der radikalen Linken. An geschichtsträchtigen Daten wie diesem ist die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gräueltaten allgegenwärtig. Die ritualisierten Gedenkfeierlichkeiten und die obligatorischen Medienberichte über jene Ereignisse gehören längst zum politischen Alltagsgeschehen in der Bundesrepublik. Es verwundert daher auf den ersten Blick nicht, dass viele Linke und ehemalige Linke an der Aufarbeitung der Geschichte, wie sie in der BRD seit den 80er Jahren betrieben wird, im Grundsatz nichts mehr auszusetzen haben.

Dabei gäbe es bei genauerer Betrachtung aus dem Blickwinkel einer radikalen Linken eigentlich eine ganze Menge zu kritisieren an dem Erinnerungsspektakel, das uns allen Tag ein Tag aus in der Schule oder im ZDF-Abendprogramm dargeboten wird. Denn die Auseinandersetzung mit dem NS beschränkt sich im offiziellen geschichtspolitischen Diskurs fast ausschließlich auf die Vermittlung historischen Faktenwissens über die Zeit zwischen 1933 und 1945. Weder die kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten nationalsozialistischer Ideologie noch die gesellschaftliche Kontextualisierung von Machtergreifung und Pogromen sind Teil dieser Aufarbeitung. Nationalismus, Antimarxismus, völkischer Rassismus und Antisemitismus, die ideologischen Grundpfeiler des deutschen Faschismus also, spielen in der Auseinandersetzung meist ebenso wenig eine Rolle wie die Massenbasis der Nationalsozialisten und ihre Unterstützung durch Konservative, Militärs und Teile des Großkapitals.

Insbesondere die Frage, wer denn nun konkret die Täter, die Verantwortlichen des Krieges und der Massenvernichtung seien, war stets ein „blinder Fleck“ in der deutschen Geschichtsschreibung. Dies führte nach 1945 zu einer fast gänzlich ungebrochenen Kontinuität im politischen Personal zwischen dem „Dritten Reich“ und der BRD. In den 50er und 60er Jahren waren daher fast alle Lehrer, Polizisten, Richter und Generäle ehemalige Getreue des NS-Regimes. Mit Kurt-Georg Kiesinger regierte bis 1969 ein ehemaliges Mitglied der NSDAP die Bundesrepublik Deutschland. In Badem-Würtemberg war sogar bis 1978 der ehemalige NS-Militärrichter Filbinger Ministerpräsident des Landes.
Diese Sachverhalte spielen in den Aufarbeitungsbemühungen der Bundesrepublik naturgemäß keine Rolle, denn die Tatsache, dass dieser Staat in nicht unbedeutendem Maß von Nationalsozialisten aufgebaut wurde, könnte dessen Existenzberechtigung mit gutem Grund in Frage stellen.

Die allgegenwärtige Thematisierung des historischen Nationalsozialismus bei Gottesdiensten, Gedenkfeierlichkeiten, im Schulunterricht oder bei Staatsbesuchen dient insofern nicht primär einer Aufarbeitung, die darauf gerichtet wäre, eine Wiederholung des Geschehenen zu verhindern. Vielmehr ist diese Form der Gedenkpolitik ein Instrument zur Inszenierung eines geläuterten Deutschland und zur Legitimation bürgerlich-demokratischer Herrschaft. Denn die erklärte Gegnerschaft der deutschen Demokraten gegenüber dem historischen Nationalsozialismus impliziert zugleich die Berechtigung, wenn nicht gar die Verpflichtung, das deutsche Modell von Staat und Gesellschaft in andere Länder zu exportieren – mit Krieg und Diplomatie wie es beispielsweise seit den 90er Jahren von der Bundesregierung auf dem Balkan praktiziert wird.

Dabei verblasst im ständigen Vergleich mit anderen Menschen- und Völkerrechtsverletzungen das Spezifische und Singuläre an den Verbrechen des deutschen Faschismus. Längst wird an den einschlägigen Gedenktagen nicht mehr nur an die Opfer der Nazi-Barbarei erinnert. Vertriebene Sudetendeutsche und die Opfer politischer Verfolgung in der DDR rücken gleichberechtigt an die Seite der Ermordeten von Auschwitz und Buchenwald.

Die Instrumentalisierung einer „moralischen Verantwortung“ zur Durchsetzung machtpolitischer Interessen; die Relativierung des deutschen Faschismus durch Gleichsetzung und Vergleich; die Ignoranz gegenüber personellen wie ideologischen Kontinuitäten zwischen dem „Dritten Reich“ und der Bundesrepublik Deutschland – all das muss der radikalen Linken Anlass zur Kritik der deutschen Gedenkkultur geben.
Eine gesellschafts- und herrschaftskritische Aufarbeitung der deutschen Geschichte muss sich von dieser Gedenkkultur fundamental unterscheiden.
Denn auch, wenn sich die Formen, in denen staatliche Herrschaft heute praktiziert wird, in Deutschland wie auch in anderen postfaschistischen Gesellschaften wesentlich gewandelt haben: Unverändert bestehen die Verhältnisse fort, in denen die Existenz des Einzelnen in letzter Konsequenz vom Wohlwollen des staatlichen Souveräns oder der gesellschaftlichen Mehrheit abhängt. Unverändert bestehen die Verhältnisse fort, in denen das Individuum seine Daseinsberechtigung durch Verwertbarkeit und die Bereitschaft zur Unterordnung unter die Herrschaft des Staates rechtfertigen muss. Diese Verhältnisse gilt es umzuwerfen, um eine Wiederholung des Geschehenen für alle Zeit undenkbar zu machen. Ein linksradikaler Antifaschismus und eine linksradikale Geschichtspolitik müssen daher stets die Kritik und das Aufbegehren gegen die politische Herrschaft von Menschen über Menschen beinhalten.