9.11.: Gedenkkundgebung in Borbeck

Nie wieder Faschismus – Nie wieder Volksgemeinschaft!

Antifaschistische Kundgebung
im Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938

Montag, 9.11.2009 – 18.30 Uhr – Borbecker Platz – Essen Borbeck

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ereigneten sich im gesamten deutschen Reichsgebiet massive Gewaltexzesse und Sachbeschädigungen gegenüber jüdischen Bürgern und ihrem privaten und öffentlichen Besitz wie Geschäften und Synagogen. Auch wenn dies in den längst gleichgeschalteten deutschen Medien so dargestellt wurde, handelte es sich nicht um eine spontane Erhebung eines wie auch immer gearteten ‚deutschen Volkszorns‘, sondern um eine abgestimmte Aktion unter Anführerschaft der nationalsozialistischen Schlägertruppen, der SA. Am Morgen des 10. November konnte man im ganzen Reich eine grausame Bilanz ziehen: Hunderte Geschäftsräume, Friedhöfe und Synagogen waren verwüstet, zerstört oder in Brand gesetzt, Menschen waren auf offener Straße verprügelt oder gar getötet worden.

Diese Ereignisse markierten eine massive Radikalisierung der antijüdischen Politik des NS-Regimes: Waren jüdische Mitbürger bis dato vor allem mit immer neuen diskriminierenden Gesetzgebungen konfrontiert wie den ‚Nürnberger Rassegesetzen‘ von 1935, die so genannte ‚Mischehen‘ zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen verboten, oder den 1938 erlassenen Arisierungsgesetzen, die eine Enteignung jüdischer Geschäftsleute und ihres Kapitals zum Ziel hatte, so wurde der staatlich praktizierte Antisemitismus in der Folge der oben genannten Ereignisse immer gewalttätiger und kulminierte letztlich im Versuch, alle JüdInnen Europas gezielt und umfassend zu ermorden, in der Shoah.

In den Ereignissen vom 9./10. November zeigte sich aber noch Einiges mehr: Nicht nur, dass der Nationalsozialismus und seine Sachwalter auf allen Ebenen bereit und willig waren, ihre politischen Pläne notfalls mit Gewalt durchzusetzen, die Administration konnte sich vielerorts auch auf die tatkräftige Unterstützung der Bevölkerung verlassen: Gerade in den Gewaltexzessen der Reichspogromnacht griff eben nicht nur die SA, sondern auch der ‚ganz normale Deutsche‘ zum Stein, um die Geschäfte jüdischer NachbarInnen einzuwerfen.

Die von den Nazis aufgrund der Menge an zu Bruch gegangenen Fenstern zur ‚Reichskristallnacht‘ stilisierten Vorgänge hatten demnach einen Doppelcharakter: Einerseits wurde den jüdischen MitbürgerInnen klar gemacht, dass sie in der noch zu formenden deutschen Volksgemeinschaft keinen Platz mehr finden würden, andererseits hatte man anhand dieser Ereignisse einen Gradmesser bezüglich der Frage, inwiefern zügellose Gewalt von der breiten Masse der Bevölkerung toleriert oder gar befürwortet wurde. Und diese Strategie funktionierte, denn es gab kaum nennenswerten Widerstand gegen diese Gewaltexzesse in der Restbevölkerung.

In der gegenwärtigen Bundesrepublik wird die Erinnerung an die Ereignisse vom November 1938 durchaus gepflegt: In beinahe jeder größeren deutschen Stadt gibt es am 9. November Gedenkveranstaltungen, organisiert von kirchlichen und/oder städtischen Organisationen und auch hier in Essen hielt der scheidende Oberbürgermeister Reiniger (CDU) am 9.11.2005 eine Rede in der wiedererrichteten Synagoge, die sich mit genau diesem Thema befasste. Richtigerweise bemerkte er, dass sich eine „weitgehend desinteressierte Nachkriegsgesellschaft“, um seine eigenen Worte zu benutzen, lange Zeit nicht sonderlich für eine umfassende Beschäftigung mit der Stadtgeschichte motivieren ließ.

Heute scheint sich dies geändert zu haben: In Essen und vielen anderen deutschen Städten sind Erinnerungstafeln, ‚Stolpersteine‘ und Gedenkstätten errichtet worden, um gegen das Vergessen und Nicht-Erinnern anzukämpfen. Schulklassen werden durch das Stelenfeld in Berlin oder die NS-Dokumentationsstätten in ihren Heimatstädten geführt, im Schulunterricht wird in verschiedenen Fächern und zu verschiedenen Anlässen die Thematik Nationalsozialismus behandelt. Es lässt sich festhalten: Die Erinnerung an die Shoah und alle Ereignisse, die ihr vorausgingen, sind ein fester Bestandteil bundesdeutscher Erinnerungspolitik.

Was diese staatliche Erinnerungspolitik jedoch weder leisten kann, noch will, ist Ideologiekritik: Über die Inhalte der NS-Ideologie, die Beweggründe für den Antisemitismus und auch den Rassismus, der beinahe die gesamte deutsche Gesellschaft erfasste, wird geschwiegen. Derartige Diskussionen werden zwar im akademischen Rahmen an Universitäten und auf HistorikerInnentagungen geführt, aber ein Transport der dort gesammelten Erkenntnisse, etwa über den korporativen Charakter des Nationalsozialismus, über die mindestens schweigende, meistens jedoch begeistert zustimmende Massenbasis, derer sich die politischen Entscheidungsträger bei jeder noch so menschenverachtenden Gesetzesänderung sicher sein konnten, findet nicht statt. Stattdessen wird vielerorts noch immer ein Bild eines deutschen Staates vermittelt, in dem eine kleine, machtbesessene und psychopathische Elite – Hitler, Goebbels, Göring und einige ihrer Adjutanten sowie die SS, in der niemand gewesen sein will – eine große, berauschte, aber unschuldige Masse von Menschen quasi schlaftrunken in den Untergang führte.

Dass es zur Umsetzung der NS-Diskriminierungs- und später: Vernichtungspolitik aber nicht nur amoralischer Handlanger und Gehilfen bedurfte, sondern Menschen, die ihre Entscheidung aus bestem Wissen und Gewissen treffen, spielt in der Vermittlung keine Rolle. Viel zu sehr ist man damit beschäftigt, die Vorgänge zu entpersonalisieren und externalisiert allzu schreckliche Tatsachen zum Werk von Menschen, die keine Spuren in der Gesellschaft zu hinterlassen haben scheinen: Kaum ein Deutscher hatte laut eigenem Bekunden überzeugte Nazis in seiner eigenen Familie, immer waren es die anderen.

Dass zum Beispiel auch in Essen nicht nur die Synagoge am Porscheplatz in Flammen aufging, sondern auch jene im Stadtteil Steele und zahlreiche jüdische Geschäfte unter den wachen Augen ihrer einstigen Mitbürger zerstört wurden, sich also mindestens eine Kultur des Wegschauens, eher noch eine der teils stillen, teils tatkräftigen Zustimmung vorfinden ließ, spielt auch in der bereits erwähnten Rede des Oberbürgermeisters keine Rolle. Beklagt wird hier dementsprechend nicht die Geisteshaltung der Zeitgenossen, sondern nur der Effekt der Vorgänge, der in der Umdeutung nicht auf die Gräueltaten des NS verweist: „Um so mehr ist es heute unsere Verpflichtung, den Faden wieder aufzugreifen, und den prachtvollen Bau – mit seiner wechselvollen Geschichte, aber ebenso mit dem Blick für die Zukunft, als Zierde der Kulturstadt Essen zu bewahren und weiterzuentwickeln.“ (Reiniger 2005)

Wir wollen, 71 Jahre nach den Ereignissen dieser Novembernacht, den Fokus der Betrachtung zumindest ein wenig zu verschieben versuchen: Weg von einer bloßen Erwähnung der Ereignisse hin zu einer Kontextualisierung ins Zeitgeschehen. Wir wollen uns der Frage widmen, welche Ideologie(n) innerhalb einer Gesellschaft der breiten Zustimmung bedürfen, damit derartige Vorgänge ohne nennenswerte Proteste und Unmutsäußerungen geschehen können, und wir wollen uns auch der Frage widmen, inwiefern einzelne Versatzstücke der damals in der deutschen Bevölkerung verbreiteten Geisteshaltungen noch immer in den Köpfen vieler Mitbürger vorhanden sind.

Der Ort unserer Kundgebung ist vor diesem Hintergrund nicht nur als historischer Schauplatz der Pogromnacht von Bedeutung. Essen-Borbeck ist seit Jahren auch eine lokale Hochburg derer, die sich unverhohlen in die Tradition der historischen NationalsozialistInnen stellen, ihre Taten verherrlichen und ihren faschistischen Vorbildern im Rahmen ihrer Möglichkeiten nacheifern. Und der Stadtteil ist eine Hochburg derer, die das neonazistische Treiben gleichgültig oder gar wohlwollend tolerieren. Auch gegen diese Verhältnisse wollen wir intervenieren und verstehen die Kundgebung dazu als praktischen Beitrag und Auftakt.